©by M. Kuliniec
1. Die Einsamkeit
Für Sartre war die Einsamkeit eine Abwesenheit Gottes. Abwesenheit einer höheren Macht, die nach dem Wunsch Kants die Rolle der Moral übernehmen sollte. Da Höhere Mächte nicht mehr bei unserer Beschreibung der Welt notwendig sind, fühlen wir uns einsam, wenn niemand da ist. Allerdings kann die Einsamkeit auch davon rühren, wenn wir denken, wir seien alleine mit unseren Emotionen. Wenn wir denken, nur ich alleine habe diese Gefühle, diese Emotionen, kann ich mich einsam fühlen. Einige Gruppentherapien sollen genau das Gefühl der Einsamkeit beim Patienten dadurch lindern, dass er mit Menschen mit ähnlichen Erlebnissen darüber spricht. In der Zeit der Pandemie, kann es vermehrt vorkommen, dass wir, eingeschlossen in unserer Wohnung, unserem Haus, unserem Leben, denken, es gehe nur uns so. Das stimmt aber meistens nicht. Da draußen gibt es andere Menschen. Und das ist eigentlich eine positive Nachricht.
Es lohnt sich über die Gemeinsamkeiten nachzudenken. Zumal wenn wir einsam sind.
2. Die Anthropologie
Der Kulturrelativismus besagt, dass verschiedene Menschen, die in verschiedenen Kulturen leben und verschiedene Sprachen sprechen auch verschiedene Ereignisse verschieden erleben können. Und es stimmt zum Teil. In seiner Strukturellen Anthropologie verglich allerdings Claude Lévi – Strauss Aspekte kulturellen Lebens von Gemeinschaften, die weit voneinander entfernt sind. Der strukturelle Vergleich sagt lediglich, dass ein Stamm aus Brasilien ähnliche Rituale haben kann wie ein Stamm aus Australien. Es schließt keinen Universalismus dabei. Mit anderen Worten, er unterstellt den verschiedenen Gesellschaften keine Sachen, wie “gemeinsame Vorfahren” usw. Der Poststrukturalismus zerstörte die Möglichkeit des strukturellen Vergleiches nicht. Er konzentrierte sich auf die Unregelmäßigkeiten in der Struktur, in der Konstruktion. Er untersuchte mögliche Fehler und Abweichungen. Das Problem des Poststrukturalismus lag daran, dass er trotz seines Namens eher mit dem Universalismus kämpfte denn mit dem Strukturalismus. Mit Kant denn mit Lévi – Strauss oder Cassierer.
Gehen wir in unseren Untersuchungen tiefer, fragen wir nicht nach einem Ritual sondern nach Empfindungen, nach Gefühlen der Menschen in verschiedenen Kulturen, bewegen wir uns auf der kognitiven Ebene, können die Ergebnisse andere sein. Es soll hier kein neuer Universalismus entstehen. Denn die Kultur, die Sprache kann sehr wohl einen Einfluss auf unsere Gefühle haben. Oder darauf, wie wir diese äußern. Es lohnt aber der Blick auf die Gemeinsamkeiten. Zumal wenn wir einsam sind.
3. Die Anthropologie
In Anthropology And Modern Life diskutierte Franz Boas die Möglichkeit des Nationalismus. Er stellte fest, dass der Nationalismus in seiner jetzigen Form praktisch unmöglich ist. Die Nation ist eine ziemlich abstrakte Konstruktion, die erst vor einer relativ kurzen Zeit entstanden ist (wie Boas fest stellt, gab es im Mittelalter in Europa keine nationalistischen Gefühle). Boas sagt, der Nationalismus hatte auch positive Kräfte, war aber zugleich der Grund für negative Gefühle. Der heutige Nationalismus erinnert eher an den Religionsersatz, den Émile Durkheim in Les formes élementaires de la vie religieuse beschrieb. Menschen versammeln sich hinter einem Symbol, einer Fahne, einem Zeichen um den abwesenden Gott zu ersetzen. Was der Gott ist, das ist an dieser Stelle nicht interessant. Das Problem ist aber, dass wir, anthropologisch gesehen, fähig sind, uns mit einer relativ kleinen Gruppe von Menschen zu identifizieren. Manche haben mehr “Freunde” auf Facebook als Menschen mit denen sie sich identifizieren können.
Es lohnt sich, über den Nationalismus nachzudenken. Zumal in der Einsamkeit.
Es lohnt sich über die Zeit nachzudenken. zumal jetzt, wo wir einsam sind.
4. Die Zeit
Kant beschrieb die Zeit als etwas, das fließt. Es soll wie ein Fluss von A nach B fließen und dabei verstreichen. Wenn wir den egozentrischen Blick Kants anwenden mag seine Bemerkung vielleicht auch stimmen. Doch die Zeit kann auch anders fließen. In Japan gibt es den Begriff der Zeit, die zurück kehrt.
Bruno Latour hat in Nous n´avons jamais été modernes beschrieben, dass das kantische Verständnis der Zeit uns dazu verleiten könne, vergangenes negativ zu beurteilen. Er beschrieb es anhand des Moments der Revolution. Revolutionäre machen einen Schnitt in der Zeit um sich von der Vergangenheit abzusetzen und das Gefühl zu haben, jetzt wird alles besser. Der Nationalismus funktioniert sehr ähnlich. Geübt darin, alte Zeit als vorsintflutlich zu bezeichnen und der eigenen alten Technologie zu missachten ist es sehr einfach, auf andere Gesellschaften von oben herab zu schauen. Denn technologisch sind wir besser. Wir sind aber immer noch einsam.
5. Der Film
Der Film erzählt all das nicht. Oder vielleicht doch. Wenn er es erzählt, so nicht vordergründig. Viel mehr im Hintergrund. Der Film wurde 2015 von Yann Arthus – Bertrand realisiert worden. Es zeigt Menschen. Und ihre Gefühle. Der Film ist frei zugänglich unter diesem Link (mit verschiedenen Sprachversionen: http://www.human-themovie.org. Und heißt Human. Es lohnt sich. In den Zeiten der Einsamkeit.